Im Mai 2025 ist Helmut Thoma, RTL-Gründer und „Erfinder des Privatfernsehens“ gestorben. Aus diesem Anlass hier Auszüge eines Interviews, das ich gemeinsam mit meinem Kollegen Jürgen Christ vor über 30 Jahren mit Thoma geführt habe und das am 10. Juni 1993 in der „Dresdner Morgenpost“ erschien. Der gebürtige Wiener empfing uns im RTL-Stammhaus in Köln in seinem 50-Quadratmeter-Büro. Dort nicht zu übersehen: ein lebensgroßer Wolf im Schafspelz. Die Figur hatten ihm Mitarbeiter geschenkt.

Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs war Helmut Thoma 53 Jahre alt. Der RTL-Geschäftsführer gehörte zu den Großen im deutschen Fernsehgeschäft, war damals der Herr von Sendungen wie „Notruf“, „Playboy’s Love and Sex Test“ und „Hans Meiser“. 1984 ging er mit 25 Mitarbeitern und 25 Millionen D-Mark an den Start. Bis 1993 war „sein“ Sender auf etwa 800 Mitarbeiter und einen Jahresumsatz von rund 2 Milliarden gewachsen. In Sachsen war RTL zu der Zeit nur per Satellit zu empfangen. Beim damaligen Gerangel um Frequenzen hatte auch der bei den sächsischen Fernsehzuschauern beliebte Privatsender den Zuschlag erhalten und sollte demnächst ebenfalls über Antenne auf die Bildschirme kommen. Dies war der Anlass des Interviews, das auch ein Spiegel der medienpolitischen Debatten zu jener Zeit ist und aus dem ich ein paar Auszüge veröffentliche:

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Frage: Dienstanweisungen bei RTL besagen neuerdings, dass kein Reporter mehr ohne Krawatte auf dem Schirm darf. Während der Sendung soll nicht mehr geduzt werden. Wird RTL seriös?
Thoma: Aus den Flegeljahren sind wir raus. Wir müssen uns im seriösen Bereich platzieren.

Ist die Seriosität Antwort auf die Diskussion um Sex und Gewalt in den nach Publikumsquoten schielenden Privatsendern?
Thoma: Das hat damit wenig zu tun. Diese Diskussion ist schwachsinnig. Was sich viele Politiker in ihrer Dummheit nicht vorstellen können: Gewalt bringt gar nicht so viel Reichweite. „Wetten daß…“, „Bergdoktor“, „Wörthersee“ stehen ganz oben – alles gewaltfreie Sendungen.

Es wird doch behauptet, das Fernsehen trage zur Gewalt unter Jugendlichen bei…
Thoma: Zu meiner Jugend waren die Kriminalheften, die „Jerry Cottons“ u.ä., schuld. Wenn ein Kind das heute liest, gilt es schon als angehender Literat. Man kann beklagen, dass die Kinder mehr vor dem Fernseher sitzen als in der Schule – okay. Aber was ist die Alternative? Die ziehen sich ja nicht mit Schopenhauer und Schiller zurück, die würden wahrscheinlich auf der Straße vielleicht noch gefährdeter sein.

Stichwort „Reality-TV“…
Thoma: Darin sehe ich einen wichtigen, interessanten Trend. Im Fernsehen fehlte eine Sendung, in der man Lebensrettungstechniken übermittelt. Zu „Notruf“ haben wir Briefe bekommen: Da lern´ ich was, kann auch meine Kinder davorsetzen.

Trotzdem gibt es viele, die die sogenannten „Gaffer-Sendungen“ vom Bildschirm verbannen wollen. Der Medienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion (…) stellt die Forderung nach Verbot von „Reality-TV“.
Thoma: Wie jemand so eine blödsinnige Forderung aufstellen kann! Da könnte ich dagegensetzen: „Schafft das fiktionale FS (FS = Fernsehen) ab“ – „Für den schwarzen Bildschirm!“ Was ist denn Reality-TV? Es beschäftigt sich mit Wirklichkeit, im Unterschied zum fiktionalen Fernsehen. Das typische Reality-TV sind Nachrichten.

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Keine Scham für „Reality-TV“?
Thoma: Warum sollte man sich dafür, bitte, schämen? Früher hätten Sie diese Sachen in den Nachrichten finden können. Die Leute sind Voyeure, „Zuschauer“. Das Fernsehen lebt davon, man ist ja selber nicht ganz frei. Es ist absurd, daraus moralische Kriterien zu machen. Das Entscheidende ist: Wollen die Leute so etwas sehen?

Können Sie sich eine „Fernseh-Qualitätskontrolle“ vorstellen?
Thoma: Qualität ist eine handwerkliche Fertigkeit. Alles andere, solang es sich im Rahmen der Gesetze bewegt, ist ganz individuell. Vielleicht wird man in 10 Jahren sagen: lauter Wahnsinnige. Aber sie konnten es ausprobieren. Qualität entscheidet sich letztlich durch den Zuschauer. Wenn es ihm nicht gefällt, soll er abschalten. Es ist gefährlich, irgendwelche Normen aufzustellen, das führt schnell zur Zensur. Da will man einen deutschen Einheitsgeschmack einführen – und den gibt es nicht.

Sie nennen die öffentlich-rechtlichen Sender „Vergreisungsanstalten“, wettern gegen deren „Politiker-Hilfstruppen“, aber möchten sie nicht missen:
Thoma: So nette Programm-Konkurrenten werden wir nie mehr kriegen, wenn uns die abhandenkämen. Doch ich fürchte, sie lassen sich auf Dauer so nicht halten. Sie sollten verkleinert werden und vielleicht voll aus Gebühren finanziert.

Nach „Reality-TV“ kommt ein weiterer amerikanischer Trend auf Flimmerkisten-Freaks zu: die „Situation-Comedys“ (Sitcom) à la „Eine schrecklich nette Familie“, sogenannte „Boulevardkomödien in Fortsetzungen“…
Thoma: Sitcoms sind preiswerter zu produzieren als die großen Serien. Doch in Deutschland gibt’s kaum Autoren, da fehlt die Substanz. Wenn ich deutsche Autoren die amerikanischen Sitcoms umschreiben lasse – vielleicht lernen sie, wie man’s macht.

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Wie sehen die Fernseh-Trends der nächsten Jahre aus?
Thoma: Die großen Shows werden verschwinden, auch aus ökonomischen Gründen. Dafür kommen vor allem die Late-Night-Geschichten. Ich kann mir vorstellen, dass sich die ganze Fernsehlandschaft durch das digitale Fernsehen im nächsten Jahrzehnt noch einmal komplett verändert. Das kann spannend werden. Da wird man ein Abo-Fernsehen haben, das viel kleinere Zielgruppen erreicht, sich so auffächert wie die Zeitschriften. Es wird sich alles verändern in Richtung Bildschirmkommunikation, das ist auch umweltfreundlicher.

Frage zum Schluss: was schaut sich Helmut Thoma privat an?
Thoma: Ich bin schon etwas abgebrüht – wie ein Bäcker, der auch nicht immer sein Brot isst. Weil ich begeisterter Taucher bin, seh‘ ich gern Unterwasserfilme, aber das ist wirklich ein spezielles Faible. (…)

Anmerkung: Ich habe leichte Anpassungen an die neueren Rechtschreibregeln vorgenommen.