Samuel Koch, Tetraplegiker, kann wieder stehen. Mit der Hand durch das Haar streichen, wild gestikulieren. Über die Bühne des Staatstheaters Darmstadt stapfen. Seit seinem schweren Sturz in der TV-Show „Wetten dass..?“ am 4. Dezember 2010, als er mit Sprungstelzen über fahrende Autos sprang, ist der 29-Jährige vom Hals ab querschnittgelähmt – und sitzt eigentlich im E-Rollstuhl. Doch das „Comeback“ in der Aufrechten ist kein Wunder, sondern Ergebnis einer verrückten Idee, die Koch sowie sein Studienfreund und Schauspielerkollege Robert Lang bereits vor fünfeinhalb Jahren in den Köpfen hatten: Lang „leiht“ dem gelähmten Koch seinen Körper und seine Bewegungen, stemmt dessen 50 bis 52 Kilogramm in die Vertikale. Ein „menschliches Exoskelett“ sozusagen.

Zu Beginn wurden die beiden mit Panzerband an Beinen, Armen und Rumpf aneinandergeklebt. Vor rund zwei Jahren, in Franz Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“, führte Lang Kochs Gliedmaßen erstmals vor Theaterpublikum auf diese einzigartige Weise. Ein spektakulärer Auftritt – zugleich ein den Rücken belastender Kraftakt für Lang sowie das Risiko von Druckstellen und offenen Wunden durch das Gaffer-Tape für Koch. Eine für beide komfortablere Variante musste her – und hier kommt Orthopädie-Technik ins Spiel.

Perfekt angepasste Spezialorthese

Die OT-Experten des Sanitätshauses Klein aus Dieburg hatten Samuel Koch bereits mit diversen Hilfsmitteln versorgt. Ein bequemeres Doppelkorsett für seine und Langs Theateraufführungen zu entwickeln, war jedoch ein besonderes Experiment. Nach rund drei Monaten „stand“ der erste Prototyp. Das Prinzip: Das Gewicht wird auf die Becken von Koch und Lang verlagert – ähnlich wie bei einem schweren Rucksack mit Beckengurt. Neben den Orthopädie-Technikern waren Kochs Physiotherapeut und sein Orthopäde bei den Anpassungen dabei. „Gemeinsam haben sie alles getan, dass es funktioniert – auch in vielen ehrenamtlichen Stunden“, hebt Koch hervor.

Das finale Modell ist eine innen gepolsterte Doppelorthese aus Polypropylen und Polyethylen, maßgenau gefertigt nach Gipsabdrücken beider Körper. Beim „Träger“ Lang reicht das schwarze Korsett vom Rücken bis über die Schultern und lässt die Brust frei. Unterhalb der Brust wird das Rückenteil von Kochs Korsett befestigt. Mit Laschen und Druckknöpfen koppelt diese Konstruktion Koch und Lang stabil aneinander und ermöglicht trotzdem freie Bewegungen. Oberschenkel, Waden und Handgelenke werden mit Sportbandagen verbunden, die einzelnen Finger mit Pflaster. Für festen Stand und sicheres Gehen sorgen Spezialschuhe des Dieburger Orthopädieschuhmachers Michael Enders: Er verbreiterte den vorderen Teil der Sohlen von Langs Chucks auf der Innenseite. Kochs Füße werden mit Riemen und Klettband auf diese zusätzliche Gummisohle geschnallt. Die Entscheidung fiel laut Koch bewusst für Chucks, damit der Knöchel frei beweglich bleibt, trotzdem stabilisiert wird – aber eben nicht so fest wie bei einem orthopädischen Lederschuh.

Tanzen im Doppelkorsett

Zwei bis drei Helfer und zehn bis 15 Minuten sind nötig, um Robert und Samuel das Doppelkorsett anzulegen. Die Freunde werden im Liegen verbunden: Koch wird dabei aus dem Rollstuhl gehoben und mit dem Rücken auf seinen Kollegen positioniert. Es ist überwältigend, wenn sich die beide aufrichten. Aktuell ist dieses „Doppelspiel“ in der Inszenierung „Faust. Der Tragödie erster Teil“ am Darmstädter Staatstheater zu sehen.

Wie lange das Korsett durchgehend getragen werden kann, hängt stark von der Intensität der Bewegungen ab. „Es ist aber jedes Mal ein Kick. Endorphine werden ausgeschüttet“, schildert Koch. „Ich habe wieder eine normale Perspektive, mein Kopf befindet sich in der früher gekannten Höhe und ich kann an mir runtergucken – im Stehen.“ Mit seinem Bruder hat er auf diese Art sogar in einem Club getanzt: „Und wir haben drei Stunden durchgehalten!“

Therapeutischer Effekt

Für Kochs Orthopäden Dr. Thorsten Walther vom Zentrum für Orthopädie und Sporttraumatologie in Langen ist die „Verbindung in der Senkrechten“ zugleich eine „hervorragende Therapieform“: „Die Proben und Auftritte tun ihm sichtbar gut. Durch die aufrechte Haltung gelangen die Organe in ihre natürliche Position. Er gewinnt hörbar an Stimmkraft, die Atmung verbessert sich“, so Dr. Walther. Von Beginn an habe er sich für Kochs „sportliches Vorhaben“ begeistert, erklärt der Mediziner: „Ich weiß, dass er für verrückte Sachen gern zu haben ist.“

Das Doppelkorsett sei zwar eine ziemlich einmalige Angelegenheit – seine positive Wirkung allerdings übertragbar, betont Dr. Walther: Das Training am Lokomat habe einen ähnlichen Therapieeffekt. Denn bei der von Hocoma entwickelten funktionellen robotischen Gangtherapie werden die Patienten mithilfe einer Orthese aufrecht geführt, die individuell an den Körper des Patienten anpassbar ist.

Kopf frei bekommen

Der Lokomat gehört mehrmals pro Woche zu Samuel Kochs Bewegungsprogramm: „Ich sag dann immer: Ich geh ’ne Runde laufen.‘ Das macht den Kopf frei.“ Die Spastiken seien durch das Training sehr verringert worden, entsprechende Medikamente nicht mehr nötig. Zu den positiven Resultaten zählten weiterhin die Kräftigung der Knochen und Muskeln. „Der Kreislauf kommt in Gang, die Blutzirkulation wird angeregt und die Belüftung der Lungen verbessert“, so Koch. Zudem plant er die Erprobung des Gangtrainers Ekso GT der Firma YOUwalk. Mit Dennis Veit, einem Mitarbeiter der Firma, treibt Samuel Koch die Weiterentwicklung für hoch gelähmte Tetraplegiker voran.

Immer mehr erreichen

Der einstige Sportler Koch ist es gewohnt, sich große Ziele zu setzen. Bereits mit sechs Jahren war er Geräteturner: „Im Herzen bin ich immer noch Sportler, und der Bewegungsdrang ist nach wie vor da.“ Ständig ist er unterwegs – zu Auftritten, Proben, Lesungen, Filmdrehs… Er gehört zum Ensemble des Staatstheaters Darmstadt, tourt gemeinsam mit dem Musiker Samuel Harfst und liest aus seinem zweiten Buch „Rolle vorwärts“, spielt in Film- und Fernsehproduktionen. Er unterstützt zahlreiche Initiativen wie die Deutsche Stiftung Querschnittlähmung sowie die Stiftung für Rückenmarksforschung Wings for Life oder die ELFMETERStiftung, die sich für Kinder und Jugendliche mit Rückenmarksverletzungen bzw. -erkrankungen einsetzt.

Trotz seines engen Terminplans trainiert er täglich – auch wenn es zwischen ein und vier Uhr nachts ist. Dafür hat er meist den motorbetriebenen Arm- und Beintrainer MOTOmed von RECK-Technik im Gepäck.

Grenzen verschieben

„Grenzen austesten“ scheint Samuel Kochs Motto zu sein. Und er kämpft, um seine immer weiter hinauszuschieben – mit größtmöglicher Unabhängigkeit: „Wenn es heißt ‚Geht nicht‘ ist dies der Ansporn, es doch zu versuchen.“ Anträge auf Hilfsmittel und Assistenzen gehören dabei zum Alltag. Denn Assistenzen fahren immer mit – und müssen bei Kochs Pensum hochflexibel sein.

„Wir kämpfen um jede Assistenz. Das ist sehr mühsam – und da gibt es keinen ‚Promibonus‘. Alle fünf Jahre prüft der Medizinische Dienst der Krankenversicherung MDK. Der Schwerbeschädigtenstatus muss absurderweise immer wieder neu beantragt werden“, unterstreicht seine Mutter Marion, die sein Versorgungsteam managed. Da helfe es, andere Betroffene mit entsprechenden Erfahrungen in der Umgebung zu haben. „Die Grundversorgung – beispielsweise mit Kathedersystemen und Stützstrümpfen – läuft reibungslos. Doch verschiedene Rollstühle wie einen Duschrollstuhl muss man sich wiederum erkämpfen.“ Hier und da verliere man auch. „So mussten wir den Stehrollstuhl selbst kaufen.“

Sanitätshäuser als wichtige Partner

Samuel Koch arbeitet mit zwei Sanitätshäusern zusammen: Dem Sanitätshauses Klein, wo unter anderem das Doppelkorsett entwickelt wurde, und mit dem Reha-Fachhandel REHABILITY. „Da sind viel Kompetenz und Service unter einem Dach vereint, mit spezialisierten Fachbereichen unter anderem für Orthesen und Handschienen“, lobt Koch. „REHABILITY ist an mehreren Standorten bundesweit aufgestellt, ideal für mich. Zum Beispiel, wenn am E-Rollstuhl ein Kabel defekt ist.“

Das Sanitätshaus Klein legte sich kurz vor Kochs Hochzeit im vergangenen Jahr wiederholt ganz besonders ins Zeug: Bei einem Autounfall hatte er sich den Knöchel gebrochen. Die Orthese sollte unter dem Hosenbein des Hochzeitsanzugs nicht auftragen sowie den Fuß für den Hochzeitswalzer im Stehen – oder besser im Schweben – genau fixieren. Denn das Brautpaar verwirklichte hier gemeinsam mit Freunden eine weitere „verrückte“ Idee: Angedockt an Drahtseile, ließ Samuel Koch seine Tanzbewegungen fernsteuern. Für ihn gefertigt wurde eine Fractur-Brace nach Gipsabdruck mit individuellen Polsterungen aus Polypropylen und Carbon.

Patient als Experte

„In Deutschland ist der gute Wille da, zum Wohl des Patienten zu agieren und zu entscheiden. Doch manchmal sind kommerzielle Gesichtspunkte nicht zu leugnen“, lautet das Fazit von Kochs Mutter Marion. Vorteilhaft wären Kompetenzzentren zum Beispiel nach dem Vorbild des Schweizer Paraplegiker Zentrums in Nottwil mit einem interdisziplinären Konzept: alle medizinischen Bereiche vom Urologen bis zum Herzchirurgen, Orthopädie-Techniker, Physiotherapeuten, ergotherapeutische Rollstuhlauswahl und Autoanpassung arbeiten bei der Rundum-Versorgung Hand in Hand.

Außerdem werde der Patient im Versorgungsalltag oft zu wenig gehört: „Aber jeder Patient ist doch sein eigener Fachmann. Kein anderer kann wissen, wie sich etwas für mich anfühlt“, so Samuel Koch. Zum Beispiel trage er über Nacht eine Intrinsic-Plus-Schiene, weil sie ihm guttue. Diese Handstellung sei ansonsten nicht so üblich, seine Ärzte und Therapeuten hätten ihm eher eine mittlere Handposition empfohlen. Doch er habe sich durchgesetzt. Patienten werde eine eigene Wahrnehmung häufig nicht zugetraut: „Die Kompetenz über den eigenen Körper wird somit abgesprochen“, sagt Samuel Koch und wünscht sich: „Mehr auf die Patienten und ihre Bedürfnisse achten, gewohnte Pfade manchmal verlassen und Versorgung neu denken.“

Mein Feature wurde in der Fachzeitschrift ORTHOPÄDIE TECHNIK 4/2017 veröffentlicht.



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