Herzfrequenz, Blutzucker, Kalorien, gelaufene Schritte, Schlaf-Wach-Rhythmus … Mit Apps und Wearables wie Smart Watches messen Gesundheitsbewusste und Fittnessfreaks ihr Wohlbefinden. Für chronisch Erkrankte bietet die Technologie ganz neue Möglichkeiten der Kontrolle. Ein riesiger Markt der „Selbstoptimierung“ tut sich auf, Gesundheitsdaten werden zur begehrten Währung. Kritiker befürchten eine Entsolidarisierung der Gesellschaft. Befürworter sehen Chancen, gesünder zu bleiben und neue Erkenntnisse über Krankheiten zu gewinnen.

Die Sensoren sind wach, immer. Nur 70 Prozent Schlafeffizienz heute Nacht, warnt das Fitnessarmband. Blutdruck liegt noch im Normbereich, Blutzucker geht so. Buttercroissant zum Frühstück? Zu viele Kalorien, murrt die App auf dem Smartphone – das gibt Punktabzug bei der Krankenversicherung. Bleibt das Aktivitätslevel so niedrig, erhöht sich der Beitrag, ermahnt der Schrittzähler. Daten zu Schlafrythmus, emotionaler Stimmung, Stresspegel senden die Geräte automatisch zum Chef. Bei „schlechten“ Werten, drohender Überlastung gibt es ein Personalgespräch. Es klingelt an der Tür. Endlich, der Profi-Fitnessdatenaufwerter steht davor. Jeden Morgen geht er mit den Fitnesstrackern fremder Leute 40 Minuten joggen, damit deren Gesundheitsscore auf dem Datenmarkt, bei Versicherern, Kreditgebern oder Personalern, steigt. Auch Hacker haben im Manipulieren der Daten neue Geschäftsfelder entdeckt. Zukunftsmusik?

Datensammeln als Massenbewegung

Ja, im gesamtgesellschaftlichen Ausmaß und dieser Bandbreite sicher. Als adidas 1984 mit dem Micropacer den ersten Sportschuh mit integriertem Sensor für Geschwindigkeit, Strecke und Kalorienverbrauch herausbrachte, war das revolutionär und fast Science Fiction. Doch inzwischen ist das Sammeln individueller Körper- und Fitnessdaten wie Herzfrequenz, Tiefschlafphasen, Kalorienverbrauch beispielsweise über kleine Aktivitätstracker am Handgelenk, Smart Watches oder andere Wearables beziehungsweise Smartphones eine Massenbewegung – man braucht nur in Fitnessstudios zu schauen. Selbst der Menstruationszyklus wird per App aufgezeichnet und berechnet. Längst sind smarte Körperanalysewaagen, Blutzucker- oder Blutdruckmessgeräte auf dem Markt.

Bereits 2007 starteten Gary Wolf und Kevin Kelly in den USA das Blog „Quantified Self“ zur „Selbsterkenntnis durch Zahlen“.

Einen Gesundheitsindex gibt es auch schon, der einen Health-Score-Wert zwischen 1 (niedrig) und 1.000 aus aufgezeichneten Körperdaten, Wohlbefinden und Lebensstil generiert. Ein „persönlicher Aktienkurs Ihrer Gesundheit in Echtzeit, ähnlich wie bei einem Aktienkurs an der Börse“, wie es der Schweizer Anbieter nennt. Vernetzung und Wettbewerb mit Freunden oder Kollegen motivieren zusätzlich. Unternehmen wie Apple locken die Nutzer ihrer Smartphones längst mit einer Art „elektronischer Gesundheitsakte“, die alle Daten speichert – inklusive Notfallpass. Wer solche Angebote nutzt, sollte allerdings die Datenschutzerklärungen der Apps lesen, die damit zusammenarbeiten.

Tracking für mehr Gesundheit?

Die datengetriebene Gesundheit und dabei vor allem die Analyse der Datenberge verspricht ein Riesengeschäft. Das zeigt sich allein daran, dass große Firmen wie Apple, Google & Co. hier investieren, die außerdem Zugriff auf Millionen Nutzerdaten haben. Denn schnödes Tracking mit Watch & Co. ist nur der Anfang. Google etwa hat eine smarte Kontaktlinse für Diabetiker zur Messung des Glukosespiegels in der Tränenflüssigkeit entwickelt. Auf die medizinische Forschung ausgerichtet ist Apples ResearchKit. Hier nehmen Nutzer von iPhone oder Apple Watch nach Zustimmung an medizinischen Studien teil und können dafür ebenfalls in der Health App gesammelte Daten freigeben. Im ersten halben Jahr hatten sich schon mehr als 100.000 Freiwillige angemeldet.

„Digitale Hypochonder“: Laut einer Studie der strategischen Unternehmensberatung LSP Digital von 2015 sind fünf Prozent der Online-Nutzer zwischen 18 bis 69 Jahre „digitale Hypochonder“ und überdurchschnittlich an digitalen Gesundheits- und Fitnessangeboten interessiert – wie am Einsatz von Fitnesstrackern und anderen Wearables. Ebenso gehört die aktive Nutzung von E-Health-Apps oder Gesundheitsservices dazu, zum Beispiel zur Information über Medikamentennebenwirkungen oder Vereinbarung von Arztterminen.

In Nutzen und Qualität unterscheiden sich die Gesundheits-Apps, heißt es bei der Techniker Krankenkasse in ihrer App-Checkliste.

Arbeitgeber und Versicherungen mischen mit

Gesundheitsdaten im Tausch gegen bezahlte Vorsorgeuntersuchungen von seiner Krankenkasse – zu diesem Deal wäre rund jeder siebte Deutsche bereit, ergab eine Meinungsfrage von TNS Infratest im Auftrag des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. von 2015. Insgesamt stehen die Deutschen laut dieser Untersuchung der Weitergabe von Gesundheitsdaten aber skeptisch gegenüber: Lediglich ein Drittel (33 Prozent) sei derzeit bereit, beispielsweise der Krankenkasse derart sensible personenbezogene Informationen offenzulegen – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen wie der möglichen Löschung der freigegebenen Daten. Ältere stehen dem etwas offener gegenüber als Jüngere.

Unter dem Label Prävention mischen Arbeitgeber und Versicherungen mit. So hat der Gesundheitsindex von dacadoo Einzug ins Betriebliche Gesundheitsmagament gehalten und etliche Unternehmen lassen ihre Mitarbeiter Schritte zählen. Eine Londoner Anwaltskanzlei lässt gar Stimmung, Schlaf und Gemütslage ihrer Angestellten per App überwachen – natürlich mit Einwilligung (Schritte zählen per App: Wertvoll für Arbeitgeber; Panorama; NDR). Kein Wunder: Unternehmen wollen möglichst gesunde Mitarbeiter – und Versicherungen möglichst gesunde Mitglieder. Als gesetzliche Krankenkassen begonnen haben, in Bonusprogrammen Zuschüsse zu Fitnesstrackern zu zahlen, stieß das nicht allerorten auf Gegenliebe.

Bonuspunkte oder Prämien von Krankenkassen für durch Fitness-Apps gesammelte und übermittelte Daten hält das Bundesversicherungsamt (Bundesamt für Soziale Sicherung) in seinem Tätigkeitsbericht 2014 für zweifelhaft. So werde der „erforderliche Nachweis, dass es sich bei der sportlichen Betätigung der Versicherten um qualitätsgesicherte Maßnahmen handelt“, damit nicht geführt. Ferner hält die Behörde die Gefahr eines Missbrauchs für gegeben: „Es findet keine Kontrolle statt, ob die sportlichen Aktivitäten vom Versicherten selbst tatsächlich erbracht wurden.“ Zudem bestünden „erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken“.

Als der Versicherer Generali Gruppe ankündigte, er wolle 2016 in Deutschland Programme einführen, bei denen Bonuspunkte und letztlich Rabatte oder Gutscheine gesundheitsorientiertes Verhalten belohnen, war das ein viel beachteter Vorstoß.

Jeder dritte Studierende in Deutschland kontrolliert seine Gesundheit online, ergab eine Studie der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld von 2015. Ein Drittel der von den Bielefelder Forschern Befragten nutzt demnach gesundheitsbezogene Applikationen auf dem Smartphone. Über 70 Prozent der Nutzer kontrollierten ihr tägliches Bewegungspensum oder ihr Schlafverhalten, so die Bielefelder Untersuchung. Entscheidender als Datenschutz seien der Gesundheitsgewinn, die Bewertung der App durch andere Nutzer und Freunde sowie eventuell anfallende Kosten.

Skepsis gegen „digitale Wolke“

Eine „digitale Wolke“ aus Gesundheit, die uns alle ständig umgibt – klingt super. Aber Skeptiker schütten Wasser in den Wein. Während auf der einen Seite der Nutzen wie Schutz vor zu viel Stress und Burnout betont wird, treiben derartige Instrumente deutschen Datenschützern Sorgenfalten auf die Stirn. Arbeitsrechtlich sei das Sammeln von Fitnessdaten durch den Chef in Deutschland ebenfalls bedenklich, wie es bei Arbeitsrechtler Ulf Weigelt in Zeit online heißt.

Boni von Versicherungen für „Selbstoptimierer“ – so reizvoll sie erscheinen mögen – sind ebenso fragwürdig und leisten einer Entsolidarisierung des Gesundheitssystems Vorschub: „Was der Prä̈mienvorteil für den einen ist, ist der Prä̈miennachteil fü̈r den anderen. Verschreibt man sich nicht ganz und gar dem Gesundheitsdiktat und folgt man nicht den Vorgaben der Versicherung und ihren Versorgungs- oder auch Lebensführungsmodellen, wird es vielleicht irgendwann richtig teuer“, sagte Prof. Dr. Christiane Woopen, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, auf dessen Jahrestagung 2015. Vielleicht gehöre die Zukunft denjenigen, „die über unsere Daten verfügen, sie auswerten und nutzen“, so Woopen. „Unternehmen, die man selbst dafür bezahlt, dass sie eine Leistung – z.B. eine genetische Diagnostik – erbringen, die aber dann dieselben Daten für Millionen an andere Unternehmen weiterverkaufen.“

INTERVIEW:
Gesundheitsdaten außer Kontrolle?
Wo die Risiken bei den Apps und Wearables liegen, erklären die Wissenschaftler Dr.-Ing. Carsten Trinitis und Diplominformatiker Thomas Kittel von der Technischen Universität München.

Tausende Apps und zahlreiche Wearables verheißen, uns fitter und gesünder zu machen – wenn wir nur genügend digitale Körper- und Gesundheitsdaten sammeln und auswerten lassen. Ist doch ein tolles Versprechen, oder?
Trinitis: Wenn die Daten bei mir selbst bleiben und ich die absolute Hoheit darüber habe – in Ordnung. Das Problem ist aber, dass die Daten in der Regel in Clouds liegen, um den verschiedenen genutzten Geräten den Zugriff zu ermöglichen, dass sie aus den Apps zu mir nicht bekannten Anbietern wandern, gespeichert, verarbeitet und vielleicht sogar weiterverkauft oder mit anderen verfügbaren Informationen verknüpft werden können – wie Facebook-Profil, Surf- oder Einkaufsverhalten.
Kittel: Es werden zahlreiche Kontextdaten erhoben – wo ich mich wann bewege beispielsweise. Der einzelne Nutzer hat zunehmend weniger Kontrolle darüber, was mit seinen hochsensiblen Messwerten geschieht und wer davon Kenntnis erhält. Gerade Hinweise auf Krankheiten könnten Versicherungen genauso interessieren wie Banken oder Arbeitgeber. Und wenn die Daten einmal im Netz sind, bekommt man sie nicht wieder weg. Meist weiß ich ja nicht einmal genau, welche Daten wo über mich existieren.
Daten gegen Rabatte – zum Beispiel bei der Krankenversicherung – ist das kein gutes Geschäft?
Kittel/Trinitis: Zumindest nicht für die Verbraucher bzw. Versicherten. Wer heute die Gewinner sind – die Fitten, Gesunden – könnten morgen die Verlierer sein, wenn sie vielleicht durch einen Unfall, vielleicht durch eine Infektion, vielleicht aufgrund genetischer Ursachen krank werden. Letztlich ist dies der Weg in die Entsolidarisierung und in die Unfreiheit. In wenigen Jahren könnten die Krankenkassen entsprechende Daten einfordern und für Sanktionen nutzen. Wer nicht mitmacht, macht sich verdächtig – und muss mehr zahlen.
Das Problem liegt also im System?
Kittel: Die Telefone selbst haben gar nicht die Rechenleistung, um all die Daten permanent zu verarbeiten und zu analysieren. Pulswerte messen, Schritte zählen, Blutwerte erforschen, Stress messen … – das alles bringt nur dann etwas, wenn es in Relation zu den Daten der anderen gesetzt wird. Das heißt, die Messergebnisse werden zusammengeführt und verglichen. Dann können mithilfe der Algorithmen im Hintergrund Schlüsse gezogen werden – zum Beispiel: Treten ähnliche Datenmuster auf, könnten ähnliche gesundheitliche Risiken wie chronische Krankheiten bestehen. Das klingt natürlich erst einmal nützlich. Doch woher weiß ich in jedem Fall, dass der Anbieter der genutzten App es gut mit mir meint und meine Daten nicht missbraucht? Letztlich verdienen Unternehmen ohne Datenerhebung kein Geld. Wir zahlen mit unseren Daten. Dahinter steht eine Industrie, die viel in solche Dienste investiert.
… aber die Daten werden doch anonymisiert?
Kittel/Trinitis: Anonymisieren ist ja schön und gut. Aber mit entsprechenden Methoden und bei bestimmten individuellen Charakteristika wie beispielsweise Blutdruck und in Kombination mit weiteren Zusatzinformationen über eine Person lässt sich Anonymität auflösen. Gerade bei kleinen Gruppen wie Abteilungen einer Firma ist das gut möglich. So kann man über den Ruhepuls zum Beispiel schon Rückschlüsse auf das Alter ziehen. Das Konzept nennt sich k-Anonymität – auf wie viele Leute trifft mein anonymisierter Eintrag zu? Je weniger, desto einfacher.
Wie lassen sich die gespeicherten Daten vom Gerät löschen? Genügt das Entfernen der App?
Kittel: Da gibt es kaum eine Möglichkeit. Ist das Ganze technisch sauber implementiert, sind die Daten an Stellen des Geräts gespeichert, an die der Nutzer nicht kommt. Letztlich ist diese Frage nicht zufriedenstellend zu beantworten.
Das heißt, man sollte die Gesundheitsfunktionen der aktuellen Smartphones oder Smartwatches gar nicht nutzen?
Kittel: Man sollte diese Geräte gar nicht nutzen. Denn die Sensoren sind fest eingebaut. Die Geräte sind also darauf ausgelegt, Daten zu erfassen. Viele Apps wollen Zugriff auf Ortungsdaten, auf das Mikrofon … da muss man sehr genau aufpassen, welcher Datenerhebung und -auswertung man zustimmt. Im Telefon werden die vielen Daten auf jeden Fall verarbeitet. Ich habe eine Zeit lang einen Schrittzähler genutzt, der keine Datenweitergabe versprach. Irgendwann änderte der Anbieter AGB und Datenschutzbestimmungen, um die Daten ab sofort in die Cloud zu übertragen. Dem habe ich nicht zugestimmt. Was in der Cloud geschieht, kann ich nicht kontrollieren. Ich verwende den Schrittzähler nun nicht mehr. Viele Dienste sind zu Beginn super, starten mit Idealismus und nicht als Datenhändler. Doch wenn sie dann von größeren aufgekauft werden oder Investoren Druck machen, sind die Daten oft zum Teufel. Sobald Daten erfasst werden, weckt das Begehrlichkeiten. Und wenn sich die AGB ändern, stimmen viele einfach zu – zumal sich das Angebot sonst nicht mehr oder nicht in vollem Umfang nutzen lässt. Letztlich sind all unsere Daten und damit wir selbst für die Firmen nur Produkte, die verkauft werden.
Wenn ich ein solches Gerät beispielsweise zum Geburtstag geschenkt bekomme, sollte ich es also gleich weiterverschenken oder verkaufen?
Trinitis: Ich würde diese Geräte nicht weitergeben. Wenn man über deren Datensammelwut Bescheid weiß, möchte man sie doch auch niemandem anderen zumuten. Ich habe mein neueres Androidtelefon außer Betrieb genommen und mein altes wieder aktiviert.

Artikel und Interview wurden im April 2016 veröffentlicht.



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