„Eine Revolution in der Orthopädie-Technik steht bevor“, prophezeiten die einen. „Gemach, gemach“, meinten die anderen. Die Vorboten tiefgreifender Veränderungen jedenfalls waren auf der OTWorld 2016 nicht zu übersehen.

Digitale Anwendungstechnologien und der 3D-Druck gehörten zu den vieldiskutierten Themen in diesem Jahr und es wurden etliche marktfähige Produkte sowie Prototypen gezeigt – von gedruckten Designprotektoren bis zu Einlagen sowie Orthesen, Badeprothesen und Prothesenstudien.

Dicht umlagert und unermüdlich in Aktion waren die kompakten 3D-Drucker – neudeutsch „Faber“ für „digital fabricator“ – im FabBus des GoetheLabs for Additive Manufacturing der Fachhochschule Aachen. Das zweistöckige Zukunftslabor war eines der Highlights auf der OTWorld. Eindrucksvoll war hier zu erleben, wohin die Reise auch in der Technischen Orthopädie in Sachen additive Fertigung geht.

Kurs auf Digitalien

Digitalisierung heißt der große Kurs, auf dem die Orthopädie-Technikbranche steuert – das wurde auf der OTWorld deutlich sichtbar. „Eine Herausforderung für unsere Branche ist die Digitalisierung aller Bereiche“, konstatierte Norbert Aumann, Geschäftsführer der Otto Bock HealthCare GmbH. „Unsere Produkte werden immer digitaler, unsere Kommunikation wird es ebenfalls.“ Erstmals sei sogar der Ottobock-Stand auf der OTWorld in diesem Jahr nahezu papierlos gewesen: „Bis auf unseren ‚Messedialog‘ hatten wir keinerlei Broschüren mehr“, erklärte Aumann. „Wir haben ein neues System installiert, mit dem wir Kundengespräche sofort digitalisieren. Der Kunde bekommt noch während er vor Ort ist oder unmittelbar danach sein Informationsmaterial zugeschickt.“

3D-Druck: Hype oder Revolution?

Das alles überragende Motiv im orthopädie-technischen „Digitalen“ war jedoch der 3D-Druck sowie das damit verbundene digitale Scannen und Verarbeiten von Patientendaten. „Neue Anwendungstechnologien gehören zu den heißen Themen der Branche. So war 3D-Druck auf der OTWorld in aller Munde – ein Hype, von dem wir alle noch nicht so richtig wissen, wohin er sich entwickelt. Das Thema wird uns sicher auch in den nächsten Jahren beschäftigen“, betonte Aumann. „In unserer Hightech-Garage Ottobock Open Innovation Space in Berlin befassen sich kreative Start-ups damit. Zudem haben wir eine Arbeitsgruppe im Haus, welche die Anwendungsmöglichkeiten dieser Technologie in unserer Branche auslotet.“ Besonders für individuelle beziehungsweise Einzelfertigungen zum Beispiel in der Orthetik oder im Schaftbau sowie im Prototypenbau sei 3D-Druck hochinteressant – sobald es um umfangreiche Losgrößen geht jedoch eher nicht: „Das Tiefziehen geht dann nach wie vor schneller.“

3D-Druck: Schicht für Schicht zum Produkt
Additive Fertigung bedeutet, mit 3D-Druckern dreidimensionale Objekte zu produzieren. Bei diesem Verfahren, das als Rapid Prototyping bekannt wurde, wird ein am Computer mittels entsprechender Software generiertes 3D-Modell Schicht für Schicht aufgebaut – zum Beispiel aus flüssigem Kunststoff, per Spritzdüse auf eine Grundfläche aufgetragen. Ist eine dünne Lage fertig, wird die Fläche abgesenkt. Die nächste Lage folgt. Bis das vollständige Produkt entstanden ist, kann es mehrere Minuten bis Stunden dauern. Zum Einsatz kommen verschiedenste Materialien – unter anderem Kunststoffe, Harze, Keramik, Metalle, Papier… Die Ursprünge des 3D-Drucks gehen in die 1980er-Jahre zurück und inzwischen hat er seinen Siegeszug durch alle Branchen angetreten. Gegenüber herkömmlichen Verfahren bietet der 3D-Druck Kosten- und Zeitvorteile sowie vor allem große gestalterische und konstruktive Freiheit. Er ermöglicht individuelle, hochkomplexe Geometrien und innere Strukturen, die konventionell nicht herstellbar wären. In der Medizin wird er unter anderem bei der Herstellung von Zahnimplantaten, Einlagen oder Prothesen eingesetzt.

Industrie 4.0: Mit großen Schritten

Die große Dynamik einer Entwicklung zur Industrie 4.0, die zahlreiche Branchen längst mit Wucht erfasst hat und an der Orthopädie-Technik nicht spurlos vorbeigeht, umriss Dr. Urs Schneider in der Keynote „Chancen und Herausforderungen der Fertigung in der Orthopädie-Technik von morgen“. Der Leiter der Abteilung Biomechatronische Systeme des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA beschrieb den sich massiv beschleunigenden Trend zur Mass Customization – der „Massenprodukte-Individualisierung“ – welcher in vielen Bereichen bereits Selbstverständlichkeit geworden sei: „Relativ große Unternehmen stellen sich in Dingen, die gar nicht so weit weg sind von der Orthopädie-Technik, der Stückzahl 1.“ Schneider verwies auf Adidas: Der Hersteller plane mit der „Storefactory“ einen Shop, wo personalisierte Schuhe innerhalb kürzester Zeit direkt im Geschäft produziert würden. Die 4. Industrielle Revolution sei voll im Gange. Dabei rücke der Service in den Vordergrund, die Individualisierung von Produkten und Services werde relevanter, Versorgungsketten würden neu organisiert. Um was es in Zukunft gehen könne, skizzierte Schneider so: „Echtzeitfähige Wertströme“ sowie „individuelle Kundenwünsche in Stückzahl 1 zu den Kosten der Massenproduktion.“

Der 3D-Druck sei jedoch im computergestützten Fertigungsprozess kein Allheilmittel, hob Schneider hervor. So könne ein Implantat beispielsweise am Ende 3D-gedruckt oder CNC-gefräst werden. „Machen Sie den 3D-Druck zu einem Verfahren, nicht zu einer Religion. Schauen Sie trocken auf Stückzahl und Kosten.“ Manchmal liege die Antwort dazwischen – so habe DMG Mori als erster Hersteller 3D-Druck und CNC-Fräse in einer Maschine kombiniert.

Daten als Voraussetzung

„Damit ein gutes Produkt herauskommt, müssen wir menschliche Daten erheben“, unterstrich Schneider. Sein Team beim Fraunhofer IPA in Stuttgart arbeite an immer realistischeren Menschmodellen – um möglichst wirklichkeitsgetreu zu simulieren, wie Bauteile am Menschen performen.

Letztlich biete die digitalisierte Produktion eine Menge Möglichkeiten: „So viel Flexibilität gab es vorher nie“. Dezentrale Produktion war dabei eines der Stichworte: Selbst kleinere Firmen können Daten digital an Servicepoints aufnehmen – und eine Produktionsfirma an ganz anderer Stelle aufbauen, zum Beispiel in einem anderen Land. Oder sie buchen für ein paar Stunden Maschinenzeit – örtlich unabhängig. „Die Chancen sind da. Manche werden schnell sein und sie ergreifen“, meinte Schneider. 3D-Druck sei dabei nur eine Option von mehreren, um Produktion effizienter zu machen. „Nach meiner Vision werden Orthopädie-Techniker eines Tages technisch unterstützte Patientenspezialisten, die mehr technische Hilfsmittel für die Entscheidungsfindung zur Verfügung haben.“

Gedruckte Prothesen als Chance für die Dritte Welt

Große Hoffnungen weckt der 3D-Druck als Versorgungsalternative für die Dritte Welt. Bezahlbare Produkte, additiv hergestellt in guter Qualität für arme Länder – wie das funktionieren könnte, beleuchtete Karim Abbas vom GoetheLab der FH Aachen im Innovationsforum der OTWorld. So stellte er den Prototypen einer robusten Low-Cost-Handprothese aus dem 3D-Drucker vor.

„Acht von zehn Menschen, die eine Prothese benötigen, leben in Entwicklungsländern“, berichtete der Forscher. „Jährlich brauchen eine Million Menschen neue Gliedmaßen. Doch der Zugang zu Prothesen ist meist nur Menschen in Industrieländern vorbehalten.“ Deshalb gelte es, funktionelle Hilfsmittel zu entwerfen, die sich kostengünstig und ortsunabhängig in den Drittweltländern produzieren ließen. Aus diesem Grund solle sich die an der FH Aachen entworfene Eigenkraftprothese AMaProsthesis (Additive Manufactured Prosthesis) auf handelsüblichen Fabbern fertigen lassen und außerdem als „mitmachende Prothese“ für Kinder geeignet sein. „Dazu müssen die Prothesen entweder modular aufgebaut oder mit einer Kombination aus strapazierfähigen weichen sowie harten Materialien gedruckt werden, die unter anderem Schweiß standhalten“, so Abbas. „Wir bedienen uns bei der Konstruktion frei verfügbarer Open Source Software. Günstig ist, dass auch die Kosten für 3D-Drucker immer weiter sinken.“ Derzeit stecke das Konzept aber in den Anfängen: „Wir haben noch einige Hürden zu überwinden. Das Innovationsforum war eine super Gelegenheit, mit anderen Wissenschaftlern und Firmen in Kontakt zu kommen und das Projekt bekanntzumachen.“

Silikon-Innovation, 3D-gedruckt
Gedruckte Silikonprothesen im Fused-Deposition-Modeling-Verfahren (FDM) präsentierten Prothesendesigner Alexander Stamos und Orthopädie-Technikermeister Christoph Braun auf der OTWorld. Ihr Unternehmen stamos + braun prothesenwerk GmbH kooperiert mit Wissenschaftlern der Technischen Universität Dresden. Direkt zur Messe brachte die sächsische Firma eine Silikonvorfußprothese mit einem integrierten Vorfußpolster aus dem 3D-Drucker auf den Markt. Durch eine spezielle Gitterstruktur des gedruckten Materials ist sie 25 Prozent (420 zu 560 Gramm) leichter als herkömmliche Modelle. Stamos und Braun verarbeiten hochtemperaturvernetzende (HTV) medizinische Silikone: „Wir sind weltweit die ersten, die medical grade silicone drucken können!“

Alexander Stamos, Christoph Braun, stamos + braun prothesenwerk

Alexander Stamos (li.) und Christoph Braun vom stamos + braun prothesenwerk.

Einen Einblick in Gegenwart und Zukunft des Verfahrens lieferten sie im Kongress der OTWorld: „Wir arbeiten daran, Silikonvorfußprothesen komplett zu drucken.“ Einen Prototypen gibt es bereits: „Nur halb so schwer wie bisherige Prothesen.“ Die Druckgeschwindigkeit werde ebenfalls optimiert – zurzeit dauere eine Vorfußprothese acht, ein Finger zwei Stunden. Außerdem sei man in Dresden dabei, den Vollfarbdruck von Prothesen zu realisieren. „Besonders komfortabel für die Patienten: Jede individuelle Prothese lässt sich selbst Jahre später exakt nachdrucken.“
Der 3D-Druck werde aus der Orthopädie-Technik nicht mehr verschwinden, da sind beide überzeugt. Nicht mehr lange, dann wollen sie ortsunabhängig herstellen – Patientendaten würden in speziellen Zentren irgendwo auf der Welt digital erfasst und ins Druckwerk geschickt. „Wünschenswert ist, dass in fünf Jahren jede Werkstatt einen 3D-Drucker hat, gerade für Reparaturen.“ Täglich gebe es neue Materialien: „Wir drucken Silikon, andere arbeiten mit Carbon. Oft unterschätzt unsere Branche die bereits existenten Möglichkeiten. Wenn wir uns als OTler nicht um das Thema 3D-Druck kümmern, tun das andere – dann kommen große Filialketten und besetzen den Markt.“

Einblick in die digitale Werkstatt

Anfassen, knautschen, prüfen – Antonius Köster, CEO der Antonius Köster GmbH & Co. KG, hatte Orthesen aus dem 3D-Drucker ins Innovationsforum mitgebracht. Das Publikum nutzte die Gelegenheit, diese ganz genau in Augenschein zu nehmen. Wo die Reise hingeht, legte Köster in seinem Vortrag „Das Handwerk wird digital“ dar. Technisch sei es kein Problem, jede X-beliebige Geometrie einzuscannen und in Daten umzuwandeln. Der Datensatz ließe sich dann direkt drucken – in Stahl, Gold… „Sie können Vorlagen aus der Natur nehmen – wie einen Seeigel – wenn die Oberfläche interessiert. Sie können Instrumente der Bionik nutzen.“ Beispiele aus der Natur ließen sich so in Orthesen- und Prothesendesigns übernehmen.

Praxisnahes Wissen zum 3D-Druck lieferte ebenso der Kongress, unter anderem im Symposium „Innovative Materialien und Fertigungstechnologien in der Orthopädie-Technik“. Sehr plastisch schilderte Brad Poziembo von der Dayton Artificial Limb Clinic die Erfahrungen mit der prothetischen Versorgung Amputierter mit 3D-gedruckten Schäften. Bereits vor rund 25 Jahren hätte es erste Schritte in der additiven Herstellung von Schäften gegeben. Inzwischen habe sich vieles weiterentwickelt: „Eine bis anderthalb Stunden brauchen wir für einen transtibialen Schaft.“ Das Material sei widerstandsfähig – zumindest gegen Schläge mit einem Vorschlaghammer oder Zusammendrücken mit einer Schraubzwinge, wie Poziembo in kurzweiligen Filmchen zeigte. „In den letzten sieben Jahren haben wir 200 Amputierte mit diesen Schäften ausgestattet.“ Einer der Vorteile des 3D-Drucks bestehe in der vollen Kontrolle über den Fabrikationsprozess. „Der größte Nutzen: Ich habe eine bessere Passform.“

Fazit: Kein Ende in Sicht

Die Potenziale des 3D-Drucks sind enorm, dies hat die OTWorld 2016 bewiesen. Das Thema wird in den kommenden Jahren sicher deutlich an Fahrt gewinnen. „Es wäre aber noch zu früh zu sagen, es wird sich in der Orthopädie-Technik etablieren beziehungsweise in welchen Feldern wird es sich etablieren“, erläuterte Michael Schäfer, Mitglied des Vorstands des Bundesinnungsverbands für Orthopädie-Technik sowie des Programm-Komitees der OTWorld 2016 sowie Geschäftsführer der POHLIG GmbH. „Wir sind im Moment in der Phase, wo wir ganz klar abwägen, wo kann 3D-Druck in der Technischen Orthopädie sinnvoll eingesetzt werden – und wo hat es vielleicht keinen Sinn.“ Auf jeden Fall wird die Diskussion über diese Technologie die OTWorld begleiten. Schäfer: „Ich bin mir sicher, dass wir 2018, 2020 und 2022 auch noch über 3D-Druck sprechen werden.“

Interview: Handwerk und Hightech – eine perfekte Verbindung
Mehr additive Technologie in der Ausbildung fordert Professor Dr.-Ing. Andreas Gebhardt, Dekan des Fachbereichs Maschinenbau und Mechatronik der FH Aachen. Der Leiter des GoetheLabs und sein Wissenschaftler-Team hatten ihren FabBus mit nach Leipzig gebracht und waren zwischen elf hochmodernen 3D-Druckern im Dauereinsatz.
Wie war die Resonanz des Fachpublikums auf den 3D-Druck-Showroom?
„Riesig. Wir haben unzählige Fragen zu Möglichkeiten der additiven Fertigung in der Orthopädie-Technikerwerkstatt beantwortet. Viele Praktiker ließen sich beraten, wie sie ihren Betrieb für diese Technologien fit machen können.“
Ist Ihnen auch Angst vor der Technik begegnet?
„Ja, Befürchtungen wie: Jetzt nehmen die mir mein handwerkliches Können weg! Dabei ist das Gegenteil der Fall: Hightech und 3D-Druck helfen, es zu perfektionieren. Denn die Kompetenz des Orthopädie-Technikers liegt doch nicht im Materialschleifen, sondern in der individuellen Versorgung. Die modernen Fertigungsverfahren erlauben präzisere Konstruktionen. Sie lassen mehr Raum, auf die spezifische Situation der Patienten einzugehen – da spielt Psychologie eine große Rolle.“
Wie kann sich der Orthopädie-Techniker zukunftsfähig aufstellen?
„CAD lernen, Prozessketten digitalisieren. Sich Partner mit entsprechenden Erfahrungen suchen. Mittlerweile gibt es zudem Free- oder Shareware, mit der man Prothesen konstruieren kann. Das ist ganz hilfreich und kostengünstig, um erst einmal anzufangen und sich zu orientieren, wie so etwas funktioniert. Natürlich ist das ein Umbruch, den es zu managen gilt. Da sind die Branchenverbände gefragt: Man muss sich über eine neue Ausbildungsstrategie Gedanken machen sowie Aus- und Weiterbildung erweitern.“

Der Artikel erschien als Teil der Nachberichterstattung zur OTWorld 2016 in der Ausgabe 6/2016 der Fachzeitschrift OT – ORTHOPÄDIE-TECHNIK.



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